Historischer Quelltext zur Schweizer Geschichte

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Konfessionelle Ausnahmeartikel
Schweizerische Bundesverfassung von 1874

Die Konfessionellen Ausnahmeartikel in der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 haben ihren Ursprung im "Kulturkampf" zwischen den Vordenkern und Vorkämpfern eines modernen Staates und der im 19. Jahrhundert weltanschaulich und politisch extrem nach rückwärts gewandten katholischen Kirche. Konservative kirchliche Kreise hatten versucht, die Bildung eines modernen Staates zu verhindern und 1844 Mitglieder des als besonders papsttreu geltenden Jesuitenordens in die Schweiz gerufen, um die konservativen Ideen zu verbreiten, was die Liberalen zwar provozierte, aber zunächst im Sinne der religiösen Toleranz geduldet wurde.

Die kirchlich - konservative Seite diskreditierte sich einerseits 1847 mit dem durch die Sonderbundskantone angezettelten Sonderbundskrieg und andererseits durch den unverhüllten Machtanspruch, den Papst Pius IX. mit dem Unfehlbarkeitsdogma von 1871 an den Tag legte. Der Kampf ging in der Schweiz nicht zuletzt deshalb zu Gunsten der fortschrittlichen Kräfte aus, weil sich der liberale, aber immer noch föderalistische Bundesstaat von 1848 durchaus bewährte und auch vielen Katholiken (insbesondere in den ländlichen Gebieten) mehr Freiheit und politische Mitbestimmung gebracht hatte.

In der Folge brachte die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 nicht nur wesentliche demokratische Verbesserungen, sondern auch einige Bestimmungen, die den Vorrang der staatlichen vor der religiösen Ordnung festschrieben und den Machtanspruch der katholischen Kirche ein für allemal unterbinden sollten:

Artikel 50 BV (in der Fassung von 1874)

("Bistumsartikel" = Absatz 4 von Art. 50 wurde 2001 ersatzlos aufgehoben)

Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet.

Den Kantonen, sowie dem Bund bleibt vorbehalten, zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften, sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates, die geeigneten Massnahmen zu treffen.

Anstände aus dem öffentlichen oder Privatrechte, welche über die Bildung oder Trennung von Religionsgemeinschaften entstehen, können auf dem Wege der Beschwerdeführung der Entscheidung der zuständigen Bundesbehörden unterstellt werden.

Die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiete unterliegt der Genehmigung des Bundes.
In der revidierten Bundesverfassung vom 18. April 1999 wurde die Substanz dieses Artikel als
Artikel 72 Kirche und Staat, übernommen. Heute gültiger Text von 1999:
Art. 72 Kirche und Staat
1 Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig.
2 Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Massnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften.

Absatz 3 entsprach noch in der Fassung von 1999 inhaltlich voll und ganz dem Absatz 4 der BV von 1874:
3 Bistümer dürfen nur mit Genehmigung des Bundes errichtet werden.

Dieser Absatz wurde in der Volksabstimmung vom 10. Juni 2001 aufgehoben.

Im Vorfeld dieser Volksabstimmung wurde heftig diskutiert, die Meinungen darüber waren gerade unter Katholiken angesichts des konservativ - autokratischen Führungsstils des gegenwärtigen Papstes sehr geteilt. Interessanterweise erhofften sich viele progressive [fortschrittliche] Katholiken von der Beibehaltung eine Stärkung innerkirchlicher Mitspracherechte im Sinne eines Druckmittels: Zustimmung zu neuen Bistümern Genf und Zürich nur gegen Mitspracherecht des Volkes bei der Bischofswahl. Obsiegt haben schliesslich die grundsätzlich liberalen Kräfte, die staatliche Einmischung in die Religion - soweit nicht Grundrechte (Menschenrechte) verletzt werden - ablehnen.

Artikel 51 BV (in der Fassung von 1874)

("Jesuitenartikel", ersatzlos aufgehoben 1973)

Der Orden der Jesuiten und die ihm affiliierten Gesellschaften dürfen in keinem Teile der Schweiz Aufnahme finden, und es ist ihren Gliedern jede Wirksamkeit in Kirche und Schule untersagt.

Dieses Verbot kann durch Bundesbeschluss auch auf andere geistliche Orden ausgedehnt werden, deren Wirksamkeit staatsgefährlich ist oder den Frieden der Konfessionen stört.


Artikel 52 BV (in der Fassung von 1874)

("Klosterartikel", ersatzlos aufgehoben 1973)

Die Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster oder religiöser Orden ist unzulässig.


Artikel 53 BV (in der Fassung von 1874)

("Zivilstandsartikel", der Sache nach noch gültig)

Die Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden. Die Bundesgesetzgebung wird hierüber die nähern Bestimmungen treffen.
Die Verfügung über die Begräbnisplätze steht den bürgerlichen Behörden zu. Sie haben dafür zu sorgen, dass jeder Verstorbene schicklich beerdigt werden kann.


Artikel 54 BV (in der Fassung von 1874)

("Eheartikel", der Sache nach noch gültig)

Das Recht zur Ehe steht unter dem Schutze des Bundes.
Dieses Recht darf weder aus kirchlichen oder ökonomischen Rücksichten, noch wegen bisherigen Verhaltens oder aus andern polizeilichen Gründen beschränkt werden.
Die in einem Kantone oder im Auslande nach der dort geltenden Gesetzgebung abgeschlossene Ehe soll im Gebiete der Eidgenossenschaft als Ehe anerkannt werden.
Durch den Abschluss der Ehe erwirbt die Frau das Heimatrecht des Mannes.
Durch die nachfolgende Ehe der Eltern werden vorehelich geborene Kinder derselben legitimiert.
Jede Erhebung von Brauteinzugsgebühren oder anderen ähnlichen Abgaben ist unzulässig.



Quelle:
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (im Internet ist der heute gültige, 1998 total überarbeitete und neu nummerierte Wortlaut publiziert, der inhaltlich aber gegenüber der Fassung vom 29. Mai 1874 abgesehen von den in hundert Jahren nach und nach aufgelaufenen kleinen Ergänzungen wenig Neues bietet). Die erwähnten, 1973 bzw. 2001 aufgehobenen konfessionellen Ausnahmebestimmungen sind nach der gedruckten Jubiläumsausgabe von 1948, hrsg. Schweizerische Bundeskanzlei: Bern, 1948 zitiert.)